Erzeugnisse
Festival Wandel und Erneuerung Teil I
Künstlerischer Nachklang zum Liedfestival Zürich im März 2025 von Jürg Halter
Ab 2025 wird jede Ausgabe des Liedfestival Zürich von wechselnden Künstlerinnen und Künstlern begleitet, die ihre Erinnerungen an das Gesehene und Gehörte in verschiedenen Formaten verarbeiten. So entsteht jeweils ein bildnerischer, schriftlicher, oder musikalischer Nachklang, der das Erlebte nicht nur dokumentiert, sondern durch eine individuelle Perspektive und einen starken künstlerischen Zugriff in ein neues Licht rückt.
Den Auftakt gibt der Schriftsteller, Spoken Word Artist und bildende Künstler Jürg Halter mit dem Gemälde To be taken in sowie dem Text Kunst darf das, die in einen offenen transmedialen Dialog zueinander treten.
Halter, geboren 1980 in Bern, gehört zu den bekanntesten Schweizer Kunstschaffenden seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Er studierte Bildende Künste an der Hochschule der Künste Bern. Bekanntheit erlangte er durch zahlreiche Auftritte in ganz Europa, in den U.S.A., in Afrika, Russland, Südamerika und Japan sowie durch Buch- und Musikveröffentlichungen. Regelmäßig arbeitet er mit anderen Künstlerinnen und Künstlern zusammen und ist im In- und Ausland für Theater tätig sowie an Ausstellungen beteiligt.
To be taken in
Acryl auf Leinwand, Jürg Halter, 2025
Kunst darf das
Eine liederliche Halluzination des Schriftstellers und Künstlers Jürg Halter in 10 Kapiteln. Oder ein sehr freier literarischer Nachklang zum Liedfestival Zürich, das vom 15. bis zum 17. März 2025 stattfand.
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Wann beginnt es nun? Oder hat es das schon? Ist das noch Saallicht oder bereits Inszenierungsschein? Man kann nur hoffen, dass es nicht längst vorbei ist. Heutzutage weiss man ja nie. Das Ende als Anfang auszugeben, das wäre so ein typisches Gegenwartskunstding. By the way: Gehören die zwei einander zuflüsternden Menschen dort zur Aufführung? Oder sind sie Teil des Publikums? Ist jene laut herauslachende Frau eine Schauspielerin oder geht sie einfach proaktiv gegen ihren selbst diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizitkomplex vor? Vielleicht steht gar die Idee im Raum, dass wir uns alle als Ensemble verstehen sollen.
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Dieser Lärm! Das Stühlerücken gehört bestimmt zum ganzheitlichen Hörerlebnis – wer hat die Noten dafür geschrieben? Und die, die dort drüben miteinander konversieren, suchen sie bereits nach der Grenze zum Lied? Tatsächlich ist ihr Sprechen von hier aus als eine Art rhythmisches Summen zu vernehmen – also irgendwie Klang, der getaktete Wörter umhüllt, Wörter, die im Klang aufgehen – hört genauer hin. Wir tauchen ab.
Doch kaum hat man sich in diese Musik vertieft, beginnt ein Baby zu schreien. Wie ist es in diesen Raum geraten? Ist’s aus jenem Flügel dort gekrochen? Ein durchaus klangvolles Baby. Von Sprache jedoch kann noch keine Rede sein. Obwohl, spitzt nur die Ohren – ja, genau, das Baby schreit mit der Zeit immer differenzierter. Es beginnt sich zu zivilisieren, sich unseren gesellschaftlichen Zwängen zu unterwerfen. Das ist furchtbar. Könnte das Baby schon reden, würde es bestimmt einwenden: „Ich schreie nicht, ich kommuniziere.“ Noch schreit es aber sprachlos, was ja, je nach Gehörbildung, zumindest als forcierter Gesang interpretiert werden könnte. Also ... you’re all right, Baby!
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Plötzlich, aus Unvermögen, sich anders ausdrücken zu können, oder vielleicht gar aus purer Verzweiflung, beginnt jetzt ein an und für sich sprachgewandter Erwachsener wie am Spiess zu schreien. Hochnotpeinlich. Das verstösst gegen unseren Gesellschaftsvertrag! Na, es könnte natürlich auch einfach ein Schauspieler sein, der ein Riesenbaby darstellt. Abermals so ein Gegenwartskunstdings.
Hinter dem Flügel erscheint, das sich zuspitzende Drama vor diesem ignorierend, eine Frau und intoniert mir nichts, dir nichts Clara Schumanns „Warum willst du and’re fragen?“. Der Hochnotpeinliche verstummt auf der Stelle. Endlich Konzert. Die Pianistin spielt so leichthändig, wie jemand anderes beflügelt über den kommenden Frühling schwadroniert. Da denkt sich manch einer von uns, ob das nun die Ahnung von einer Möglichkeit sei, die hier noch niemand ins Auge fasste. Derweil hebt die Sängerin in höhere Sphären ab. Mein Gott, was würde die Schumann dazu sagen?
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Schon Pause? Nein, das glaube ich nicht. Der Mann mit seiner glänzenden Kaffeemaschine dort steht bestimmt in der Besetzungsliste. It’s Transdisziplinarität, Baby! Jetzt aber ran ans Buffet! Doch, oh, Schreck! Unglaublich! Der Preis für ein so kleines Lachsbrötchen ... unverschämt! Da ist tatsächlich mehr Butter als Lachs drauf. Und die Zitrone fehlt?! Lachs ohne Zitrone ist wie eine Klaviatur ohne schwarze Tasten. Entschuldigt diesen unmotivierten Vergleich, aber man wird ja wohl mal noch was sagen dürfen. Irgendwo muss die Kunstfreiheit ihre Grenzen haben!
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Wieder Stühlerücken! Jede und jeder im Raum, selbst das Baby, das sich mittlerweile dem Schlaf überantwortet hat, denkt alsbald: „Ich werde ein Lied über gar nichts machen.“ Man lächelt einander zu. Die Sängerin fährt beseelt mit Schumann fort. Beinahe klingt nun so was wie Versöhnung an.
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Da betritt jemand Neues die Szene und verkündet: „Willkommen zum Salon der Mündigkeit, wir wollen mal eben kurz die Weltlage generell und überhaupt verhandeln: Europa, na ja, ziemlich in der Klemme, um es schwer verharmlosend zu sagen. Die U.S.A. sind experimentell drauf, um es diplomatisch zu sagen: Sie lassen die Demokratie, die schon bislang arg gebeutelt wurde von denen, die sich nun erneut als deren Retter gegenüber den aktuellen, vermeintlichen Rettern der Demokratie aufspielen, sich selbst abschaffen. Komplizierter Satz? Komplizierte Welt! Und Russland? Respektive Russland und Friedensverhandlungen? Ob sich eine scharfe Landmine durch gutes Zureden in eine Friedensmission transformieren lässt? Kreischend laute Zweifel sind angebracht. China schickt ein kühles Lächeln um die Welt. Schrecklich, dieses dystopische Schauspiel!“
Was ist das denn für ein verrückter Performer? Genug rhetorischer Klimbimwahn! Diese allgegenwärtige Politisiererei geht mir so was von auf die Nerven. Wo bleibt das Lied über nichts? Ein Blick in die Runde reicht, um zu erkennen: Man hält leise verzweifelt Ausschau nach dem Mann mit der Kaffeemaschine – einem Erlöser auf Augenhöhe.
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Der Performer fährt fort: „Für gewöhnlich redet man in einem geschützten Rahmen unter Gleichdenkenden über den Niedergang der Demokratie, an dem die eigene Blase selbstverständlich keinerlei Mitschuld trägt. Man ist schliesslich stets auf der richtigen Seite, respektive wabbelt in der richtigen Blase. Stets frisch mit Lachsbrötchen gefüttert, wandeln wir uns so selbst in Lachse und schwimmen konform gegen den Strom auf dem Weg zu noch mehr Wandel und Erneuerung – selbstverständlich ohne die Blase zu verlassen. Ebenso selbstverständlich merken wir dabei nicht, wenn Fortschritt, ideologisch zersetzt, zum Rückschritt vorkommt. Redefreiheit bedeutet dann selbstverständlich längst, nur noch die zu Wort kommen zu lassen, die einem nicht widersprechen und also unter Demokratie dasselbe verstehen wie man selbst. Der Diskurs ist zum vielstimmig-eintönigen Monolog verkommen. Es ist so schrecklich schön zu sehen, dass wir uns noch immer am liebsten selbst auf den Leim gehen. Ein Hoch auf die Komplexitätsphobie! Aber lasst uns bitte nicht über Politik sprechen. Wir sind schliesslich wegen der Kunst hier und Kunst hat doch nichts mit ...“
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Der Mann mit der Kaffeemaschine tupft sich mit seinem hübschen Einstecktuch den Schweiss von der Stirn. Schumann stürzt enthemmt auf ihn zu. Oder bilde ich mir das nur ein? Sicher ist nur: Intellektuelle Weltbetrachtungsspiele werden uns weiss Gott nicht vor der nächsten Katastrophe retten. Okay, alles andere vermutlich auch nicht. „Ha ha ha!“, lacht es teuflisch aus dem Flügel, „So lasst uns Europa pazifistisch gesinnt untergehen lassen! Fremdbestimmung als Chance! Wandel durch Unterwerfung!“
Gottlob! Endlich wieder ein Lied! Die Pianistin murmelt: „Die Verblendung der Welt als Verzauberung verkaufen“, und spielt. Die Sängerin singt: „Die Verzauberung dient der fortwährenden Ablenkung von der Ablenkung von der Ablenkung von ...“ – hat das auch Schumann komponiert? Noch viel drängender stellt sich mir nun plötzlich die Frage: Wenn wir lernten, den Tod als Chance zur Selbstoptimierung unter umgekehrten Vorzeichen zu begreifen, was dann? Hirn! Lass gut sein!
Die Sängerin fährt fort: „Ich stand in dunklen Träumen, und starrte ihr Bildnis an ...“,und so unaufgefordert wie unerwartet setzt mit einem Mal das ganze Publikum mit
ein: „Und das geliebte Antlitz, heimlich zu leben begann.“
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Ach, Gottchen, eine durchaus spannende Inszenierung war das nun. Ein hübsches Konzert ohne Anfang verkam zu einem politischen Diskurs, bevor dieser zu einem Lied über ungefähr nichts gerann und sich schlussendlich in einen Text über beinahe alles auflöste. Aber ich will nichts gesagt haben. Eure Beschwerden könnt ihr sehr, sehr, sehr gerne an der Garderobe gegen eure Jacken, Mäntel und Taschen eintauschen. So läuft das hier. Schumann, verflucht! Jetzt sagen Sie endlich auch mal was!
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Wann endet es nun? Oder ist’s schon vorbei? Ist das noch Inszenierungsschein oder bereits Saallicht? Man kann nur hoffen, dass es nicht schon wieder angefangen hat. Der Flügel schweigt. Die Stühle stehen still. Doch die Kaffeemaschine, jawohl, die kühlt nimmer ab.
Leiermann im Zwielicht
Auf der Suche nach dem Ort des Liedes
Vortrag von Detlev Müller-Siemens im Rahmen des Lied-Happenings Ich wünscht’ ich wär ein Vöglein
Als ich die Einladung bekam, etwas über die Kunstform des Liedes zu sagen, zögerte ich zunächst. Ich war ratlos. Denn eines war mir klar, es sollte nicht noch ein weiteres Referat über die Geschichte des Kunstliedes von den provenzalischen Trobadors bis zum 21. Jahrhundert werden. Aber ich bemerkte ein diffuses Unbehagen bei mir im Zusammenhang mit der Konzertform, in der das Lied präsentiert wird, also der Konstellation Sänger:in nebst Begleiter:in auf dem Podium. Und warum spürte ich nur bei einem Liederabend einen Widerspruch zwischen der Intimität des Liedes als Kunstform und dem öffentlichen Rahmen, in dem es sich zeigt, und nicht im kammermusikalischen oder solistischen Kontext? Was wäre denn ein adäquater Ort für das Lied? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Ort für das Lied? Darüber hinaus auch die Fragen: was ist Gesang, warum Gesang, wie beziehen sich Stimme und Sprache, Klang und Wort aufeinander? Darüber wollte ich mir Gedanken machen, und zwar als Komponist.
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Was also ist Gesang? Laute, Worte, Text, Dichtung, die auf eine besondere Art und Weise artikuliert werden mittels der menschlichen Stimme. Der Gebrauch unserer Stimme dient in der Regel nur dazu, den Inhalt der Worte möglichst klar und verständlich zu kommunizieren. Hinzukommt eine oft auch Missverständnisse verursachende Bedeutungsebene, nämlich ein differenziert modulierender Tonfall, der sogar Ähnlichkeiten mit Gesang entwickeln kann. Im Gesang kehrt sich dieses Verhältnis nun nicht vollständig um, denn die Worte sind als Bedeutungsträger immer noch sehr präsent. Aber der Gesang arbeitet, teils geradezu subversiv, gegen die sprachliche Ebene an. Die Strahlkraft der Worte verblasst im selben Masse, in dem der Gesang an Glanz und Ausstrahlung gewinnt. Er vermag so durchaus die semantische Ebene der Sprache ganz in den Hintergrund zu drängen. Worte können in der Dichtung zu Musik werden. Gesang kann in höchster gesangstechnischer Vollkommenheit gleichsam "charismatisch" zu uns sprechen. Wort und Gesang: Zwei Welten, die sich gegenseitig durchdringen, einander beeinflussen und ihre Qualitäten zum Teil austauschen. Diese Beziehung mit ihrer wechselhaften Dynamik kann die Grundlage für ganze Operndramaturgien bilden. Dies führte zu einer Reihe von Modellen, die häufig in der Oper Verwendung finden: Sprechgesang, unterschiedliche Formen des Rezitativs, Arioso, Arie, Ensemble bis hin zum Chorsatz.
Wie nun aber gestaltet sich die nähere Beziehung zwischen Wort und Klang? Wie verhalten Sie sich zueinander? Wie kommunizieren sie miteinander?
Worte können Klänge von innen her mit Bedeutung aufladen, sie können aber Klänge auch gleichsam von außen umhüllen und so mit ihrer Bedeutung zudecken. Hingegen kann eine melismatische Vertonung, also eine solche, die unabhängig vom tatsächlichen Wortrhythmus komponiert wurde und in der weit gespannte melodische Bögen dominieren, die Bedeutungsfunktion der Worte so stark schwächen, dass diese sich IN und IM Klang auflösen. Hier umhüllt die Musik das Wort. Dies kann dazu führen, dass das Wort sich der Musik fast vollständig an verwandelt. Durch die Begegnung mit dem Klang wird die klangliche Qualität der Worte mehr wahrgenommen. Und der Klang wiederum gewinnt an sprechendem Ausdruck in Verbindung mit dem Wort. Wort und Klang durchdringen und verwandeln sich auf diese Weise wechselseitig. Daher gibt es im Lied weder blossen Laut noch klare Bedeutung. Es findet statt in einem Zwischenreich im Zwielicht, das, sofern wir uns ihm mit Wachheit auszusetzen bereit sind, uns vielleicht am Ende klarer sehen lässt. Das Lied "Zwielicht" von Robert Schumann schließt mit den Worten:
"Manches geht in Nacht verloren
Hüte dich, sei wach und munter!"
(Original Eichendorff:
Manches bleibt in Nacht verloren - hüte dich, bleib wach und munter!)
Der singende Mensch, der dort auf der Bühne vor einem Kollektiv, dem Publikum, steht, an seiner Seite, als unterstützende Mitstreiter die Begleiter am Klavier - diese ganze Konstellation hat etwas Theatralisches, geradezu Inszeniertes an sich und bekommt durch ihren rituellen und feierlichen Charakter eine fast existentielle Bedeutsamkeit: „der singende Mensch, allein“. Aber ist es tatsächlich nur dies: der Mensch in seiner existenziellen Unbehaustheit im Rahmen einer ritualisierten Situation? Oder wird hier nicht auch ein anderes Problemfeld spürbar, nämlich das Verhältnis des singenden Menschen zur Sprache? Und damit verbunden - wie schon eingangs erwähnt - die Frage nach der Beziehung zwischen der Stimme und der Sprache?
Der erste Schrei des Neugeborenen ist zunächst noch frei und ohne Bedeutung. Aber durch die vielfältigen Arten der Reaktionen und Antworten seiner Umgebung auf ihn wird er sehr bald eingefangen in einem Netz der symbolischen Ordnung, die wir als Sprache bezeichnen. Daher wird der „zweite Schrei“ des Neugeborenen zu einem Zeichen, einer Botschaft im Rahmen von Kommunikation. Die Stimme, als Ort ursprünglicher und autonomer, mit sich selbst identischer und sich selbst tragender Lautgebung muss verschwinden, damit Sprache oder eher Sprechen, stattfinden kann. Diese verschwundene Stimme wird so zu einem Medium, das die Sprache trägt. Daher rührt das Begehren der Stimme, sich davon zu befreien, autonom zu werden und sich freizusetzen, wenn schon nicht im Schrei, dann im Gesang. Und so scheint sich in dieser sehr speziellen Situation des singenden Menschen auf der Bühne vor einem hörenden Kollektiv im Zuschauerraum eben dies abzuspielen: ein Ringen der Stimme um Autonomie gegenüber der Sprache.
Da die Sprache uns den Zugang zur ursprünglichen Stimme verstellt, es uns unmöglich macht, an diesen Ort heranzukommen, ist der Schrei der einzige tatsächlich sprachlose Ort, an dem die Stimme ganz zu sich selbst finden und bei sich sein kann. Man denke hier an vier Schlüsselmomente in der Opernliteratur: der Schrei der Lulu in der gleichnamigen Oper von Alban Berg, als Jack the Ripper sie ermordet. Der Schrei der Kundry in Wagners Parsifal. Der Schrei des Jakob Lenz am Beginn der gleichnamigen Kammeroper von Wolfgang Rihm. Und der sogenannte elektronische "Schreiklang", der über Lautsprecher im Publikum am Ende der Oper "Die Soldaten" von Bernd Alois Zimmermann abgespielt wird. All diesem haftet jeweils aber auch ein gewisses Pathos an, da dieser Schrei in der artifiziellen Situation der Oper natürlich ein inszenierter Schrei ist. Er geschieht nicht als Ereignis, sondern ist hergestellt, ein Artefakt. Und dennoch: es ist auffallend, dass auch ein derart artifiziell "maskierter" Schrei auf der Bühne uns sehr nah kommen und unter die Haut gehen kann, uns bis ins Mark trifft. Denn wir erleben das Heraustreten aus einer bisher unbemerkt gebliebenen Abwesenheit: die menschliche Stimme und damit unsere Existenz. Aber es gibt auch das Gegenteil: Robert Schumann komponiert das Verschwinden der Stimme, jedoch nicht das Verschwinden in der Sprache als sprechende Stimme, sondern in den Klang des Klaviers hinein, in dem der Gesang sich als imaginäre, „innere“ Stimme fortsetzt in langen Nachspielen, ohne Worte, als wäre gerade dieses Instrument der Ort, an dem die Stimme sich selbst begegnen und von der Last der Sprache befreit zu sich selbst zurückkehren kann.
Das besondere Format des Kunst-Liedes macht es einem nicht leicht, darüber zu sprechen. Es ist sehr intim, ganz in sich zurückgezogen, ganz für sich, ganz bei sich. Zugleich aber birgt es in sich die Möglichkeit, komplexeste Seelenlandschaften vor uns auszubreiten vor einem weit ausgespannten Welt-Horizont. Im ersten Lied von Franz Schuberts „Winterreise“ heißt es: "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus", und dieser Auszug findet im Schutze der Nacht statt. Unbemerkt und still geschieht der Aufbruch in die Fremde, der, von Lied zu Lied sich zunehmend in einen Rückzug ins Innere verkehrt.
Durch das Festhalten an dem Widerspruch zwischen dem intimen Charakter des Liedes und der traditionellen Konzertform gerät leicht in Vergessenheit, dass der ursprüngliche Ort der Liedpräsentation eigentlich ein Zimmer im privaten Bereich war - so zumindest zu Schuberts Lebzeiten. Dies bekam sogar einen Namen: "Schubertiaden", die man heute vielleicht als „Performances“ bezeichnen würde. Dieser intime Rahmen wurde jedoch aufgebrochen, und das Subjekt des Liedes präsentiert sich heutzutage ganz ungeschützt in der Situation eines Konzertes auf einem Podium vor Publikum. Jeder einzelne Mensch im Publikum kann sich wiedererkennen in dieser theatralischen Szenerie auf dem Podium und, obwohl er sich inmitten eines Kollektivs befindet in seiner Vereinzelung gleichsam wie „ertappt“ fühlen. Hier wird also auch ein Widerspruch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit deutlich, was vielleicht durchaus ambivalente Gefühle hervorrufen kann. Zugleich bietet dieser performative Rahmen aber auch die Möglichkeit, die Erfahrung einer besonderen Aura machen zu können: die Aura einer authentischen und menschlichen Begegnung, sowohl im kleinen Rahmen auf der Bühne zwischen den Interpret:innen, als auch im großen Rahmen zwischen diesen und den jeweils Einzelnen im Saal.
Im letzten Lied der Winterreise "Der Leiermann" findet aber noch eine andere Begegnung statt: das Lied begegnet sich selbst als Lied im Lied. Es findet zu sich selbst, aber als entfremdetes: das Klavier verwandelt sich in eine imaginäre Leier, die radikal karge Melodik kreist im Klavier und im Gesang redundant in sich selbst, und wir werden am Ende des Liedes Zeuge einer desolaten Szene, eines einseitigen und ins Offene sich verlierenden Versuchs der Kontaktaufnahme mit dem Leiermann, einer an ihn gerichteten Frage, die aber unbeantwortet bleibt:
"Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir geh'n?
Willst zu meinen Liedern
Deine Leier dreh'n?"
Also eine ganz einfache, authentische und menschliche Begegnung, die unbemerkt und in Unbehaustheit stattfindet. Zu Beginn der dritten Strophe heißt es: „keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an“.
(Bsp. Schubert Leiermann ab 3. Strophe: 1‘30“)
Schubert komponiert hier "ein Lied im Lied": dem Sänger und dem Pianisten auf dem Podium entsprechen die Hauptperson und der Leiermann im Lied. Die reale äußere Konstellation im Konzert spiegelt sich im imaginären Inneren des Liedes selbstbezüglich wider. Die Worte des Gedichts beschreiben das, was wir tatsächlich hören, das, was nicht nur imaginär IM Lied, sondern auch ganz real auf dem Podium ALS Lied stattfindet. Diese beiden Ebenen verhalten sich gegensätzlich zueinander: das real gesungene Lied besingt ein imaginäres Lied, das jedoch ungesungen bleibt, denn die Frage an den Leiermann blieb ja ohne Antwort. Dieses imaginäre und ungesungene Lied ist aber dennoch anwesend und sozusagen virtuell hörbar durch das tatsächlich gesungene Lied. Im Gegensatz zu den Musiker:innen auf dem Podium bleibt dem bettelnden Leiermann „sein kleiner Teller immer leer“. Das innere, imaginäre und gleichsam "verschwiegene" Lied findet seinen Ort dort, wo es unbemerkt bleibt, ausgegrenzt, im Abseits, "drüben hinterm Dorfe"; während das äussere, real interpretierte Lied öffentlich aufgeführt wird im Scheinwerferlicht einer Konzertsituation vor applaudierendem Publikum. Das Reale und das Imaginäre durchdringen sich hier gegenseitig und bilden eine komplex sich widerspiegelnde und ineinander verschlungene Struktur. Wechselseitig geht eins ins andere über.
Diese Art von Selbstbezüglichkeit erscheint fast wie ein Vorecho dessen, was man erst wieder im 20. Jahrhundert in einer avantgardistischen, später in anderer Form auch postmodernen, Ästhetik wiederfindet, deren Hauptmerkmal ausmachte, Kunst über Kunst zu schaffen, Musik über Musik zu komponieren, Selbstreferenz und Selbst-Reflexion zur bestimmenden Grundlage künstlerischen Handelns zu machen.
Die Spannung zwischen Rückzug in die private Innerlichkeit und Präsentation in der Öffentlichkeit macht die besondere Aura der Kunstform Lied aus. Das Lied hat in diesem Sinne keinen Ort. Und in den innigsten Momenten von Schuberts Klangwelt spüre ich als existentielle Grundbefindlichkeit weniger das Pathos von Einsamkeit, als vielmehr die weitaus unpathetischere und stillere Variante: die Verlassenheit. Vielleicht könnte das Annehmen einer gewissen Verlassenheit auch eine erste Voraussetzung zum Komponieren von Liedern sein? Und wäre das vielleicht auch eine erste Bestimmung des Ortes, von dem aus überhaupt komponiert wird?
Ich möchte schließen mit den Worten eines Liedes von Guillaume d Aquitaine, dem ersten Trobador, der im 11. Jahrhundert in Frankreich lebte:
„Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen:
Weder über mich noch über andere,
Weder über die Liebe noch über die Jugend,
Noch über anderes,
Ich habe es im Schlaf gedichtet
Auf einem Pferd.“